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Ruhm und Erschöpfung – Der Text

Epilog zur Trilogie PUBLIC SHOWDOWN: Nasty Peace (2014), Knick-Knack To The Future | Ruckzuck in die Zukunft (2015), Who ya gonna call? Schlossbusters! (2016)

Forward
Neulich, in der Verfügbar: Wir hingen nach der Arbeit dort herum, wobei dieses NACH nur schwach flackernd existierte.
Wir hingen nach der Arbeit herum, um weiter über Arbeit zu sprechen und daran zu arbeiten, mehr zu arbeiten und weniger über Arbeit zu sprechen.
Wir hingen herum und fragten uns, an welchen Ort in Börlyn unser upcoming Event passen würde. Und an welchen nicht. Und leider fiel uns nur ein Ort nach dem anderen ein, an welchem es nicht –.
Und dann zückte mein Kollege mit dem erschreckend großen Lovestick sein erschreckend kleines Smartphone und ließ seine Kontakte in die Kunstszene spielen, nein, ER spielte auf dieser Klaviatur aus Kontakten:
So Bekannte von ihm seien DIE Experten für so was, wechselten für ihre Ausstellungen jedes Mal den Ort, und die eine hätte mal von einem Ballsaal oder Konzertsaal oder so erzählt, mitten in Börlyn, wo sie was vorhätten. Ein Raum aus den Zehnerjahren, den 1910ern, und das wär doch optimal für uns. Oder unseren Client.
Wir waren begeistert. Wenn auch ohne Geist. Wir malten uns aus, wie der alte Ballsaal oder Konzertsaal oder was auch immer, diese uralte Patina aus dem frühen 20. Jahrhundert – jenem Jahrhundert, das uns jedes Jahr noch ein Jahrhundert weiter weg scheint –, wie diese Gerade-noch-Kaiserreich-fast-schon-Republik-und-fast-fast-schon-Diktatur-Patina genau das richtige wäre, für Event wie Client.
Und zwanzig Minuten später saß dieses Trio freier Kuratoren vor uns, eine aus China, einer aus San Francisco und eine aus Brandenburg. Und wir fragten sie, noch bevor sie saßen: Wo zur Hölle gibt es in dieser Stadt noch Orte, die nicht verbraucht sind?
Erst verstanden die drei statt verbraucht: verraucht, so daß wir nicht weiterkamen. Und der Rauch, den wir zeitgleich zwischen uns bliesen, aus elektronischen Zigarren, war da auch nicht so förderlich. Der eine Kurator, der aus San Francisco, hustete durchgängig, bis zum Ende des Gesprächs.
Und das kam bald. Denn als wir noch mal gefragt hatten, was wir hatten fragen wollen, nämlich wo zur Hölle das Paradies der unverbrauchten Räume sei, da glühten die Augen der chinesischen Kuratorin auf, und sie zischte: Paradies und Hölle können derselbe Ort sein.
Und wir so: Äh, nein?!?
Fein.
Dann ließen sie uns sitzen. Das Trio der Kuratoren verpißte sich. Und die aus Brandenburg ließ es sich nicht nehmen, im Abgang die Grazie ihres Mittelfingers zur vollen Entfaltung zu bringen.
Die Kuratorin aus Brandenburg – ein Film von Doris Dörrie.
Und wir? Waren ohne Ort.
Und das Tempo zog an, unbarmherzig, je kürzer der Zeitraum, desto schneller lief die Zeit. Auf einmal waren es noch zehn Tage bis zu unserem Event, das ja nicht mal unseres war. Und wir suchten hastig und suchten akribisch und suchten über alle Kanäle, die uns zur Verfügung standen, aber was nicht zur Verfügung stand, war dieser Ballsaal oder Konzert- oder Sonst-was-Saal in der Mitte Börlyns, den bekamen wir einfach nicht zu fassen.
Unseren Client hielten wir mit Versprechen hin, goldüberzogenen Versprechen, und die Kollegen aus der Agenturwelt wisperten, es sei nur interest management, den Ort für die blöde Veranstaltung nicht zu verraten. Und das Wispern wisperte weiter, wisperte: WO IST DIESER KONZERTSAAL? Letztlich interessierte sich niemand mehr für das Event, sondern nur für den Ort.
Und wir blieben cool, äußerlich. Innerlich waren wir panisch bis in die Fingernägel, die wir wie Maiskolben runterknabberten, bis das Weiße verschwand.
Wir riefen das Orakel der Orte an und spielten in der Lotterie der Locations. Wir wühlten uns durch Stadtpläne der vergangenen Jahrzehnte, liefen durch Straßen und rekonstruierten alte Nummerierungen anhand von Parzellen.
Noch vier Tage, noch drei Tage, noch zwei.
Und nun sitzen wir hier, und gleich geht es los, aber es geht eben nichts los, denn wo, wo sollte es bitte losgehen?
Paradies und Hölle KÖNNEN eine Stadt sein.
Wir liebten diese Stadt. Wir liebten sie wie einen jungen Lover, der noch schön folgsam ist, bevor er lernt, was genau Lieben heißt. Wir dachten, wir beherrschten diese Stadt mit unserer Liebe. Jetzt beherrschen wir nicht mal uns.
Und der Client und die Follower und die Frenemies pochen an die Tore, sie haben es satt, zu warten, zu warten. Sie wollen die Kulisse, sie wollen die Kulisse, wollen die Kulisse und den Spaß, den die Kulisse bedeutet, und sie wollen das Geschäft, um das es dahinter geht, knallhart.
Meine Kollegen sehen aus, als schwümmen sie, sie schwimmen, nein, sie schwimmen nicht, oder doch, schwimmen in den Tränen in meinen Augen. Und die Tränen drücken gegen die Tore, die Tore, sie öffnen.
Wehe dem kühnen Schwimmer, der sich unberaten in die Wogen unseres Eventlebens stürzt.

Location Doubts
Du hast mir gesagt, es sei nicht so. Es sei ganz sicher nicht so, daß ich dir nicht genüge. Es sei nicht so, daß du mein Altsilber und Lila je wieder aufgeben wollest, aber ab und zu ein paar andere Farben täten deinen Augen ganz gut. Klar, ich sei dein ein und alles. Aber eben nicht ALLES alles. Mit deinen Gefühlen habe das nicht zu tun – und mit meinen erst recht nicht –, es gebe Dinge, die außerhalb unserer Gefühle lägen, aber die seien bedeutungslos. Und gerade deshalb von Bedeutung.
So ist es halt: Du hattest damit angefangen, dein Leben zu dem zu machen, was es immer sein sollte, sein wollte, dieses Leben, wie es dieser Stadt im Jahr 2016 entspricht. Als erstes hattest du die Ohren angelegt. Dann waren deine Zähne auf einmal nicht weiß genug. Als sie strahlten, schien deine Nasenwand im Kontrast zu schief. Und war die gerade, mußte die Brust größer. Mit den massigen Brüsten brauchtest du neue Armaturen, aus Kupfer oder Blattgold. Die größte Fläche an dir sollte vollverspiegelt sein. Und für den Boden wolltest du auf einmal Schwarz und Discoglitzer. Und als alles an dir top durchoptimiert war, fiel dein Blick auf mich.
Nein! Bitte nich!
Bitte sag ihn nicht.
Sag nicht diesen Satz, er wird alles verändern.
Aber du sagtest ihn. Du sagtest: Ich will aber ALLES.
Wir gingen auseinander. Ich wollte mich nicht ändern. Du wolltest dich nicht ändern. Und ich sagte, nein, ich wollte nichts mehr sagen.
Jetzt schreibe ich Lyrik, wie früher. Für mein Datingprofil. Und wenigstens da kann ich der gute Partner sein, den ich immer noch sehe, wenn ich Selfies mache, in mir.
I know that it’s fake but I want it to be real so bad.
Mein aktuelles Profilpoem lautet so [HÜSTEL]:
Ich bin ein Saal, welcher gegen fünfhundertvierzig Sitzplätze faßt, in den graziösen Formen des Louis XVI.-Stiles. Meine Farbensymphonien von Altsilber und Lila geben mir ein festliches und doch intimes Gepräge. Die Beleuchtung ist über meine ganze Decke in schön gegliederten Kassetten verteilt und ruft ein harmonisches, weiches Licht hervor. Die Entlüftung sorgt für gute Ventilation. Im ganzen genommen: ein Festraum, in dem Künstler und Publikum sich wohl fühlen und sofort in Konnex kommen. Auf meiner Bühne befindet sich für Tanzkunst-Darbietungen Rampenbeleuchtung und farbiges Oberlicht, und in meinem tiefste Grunde wartet noch eine kleine Kabine auf Projektionsvorführungen. Schon lange existierte in diesem ungeheuer vergrößerten Börlyn ein starkes Bedürfnis nach einem kleinen Konzertsaal, der es den Künstlern ermöglicht, auch ohne die ungewöhnlichen Spesen der großen Veranstaltungen dem Publikum und der Presse in aller Nähe ihre Kunst darzubieten. Dafür spricht, daß ich bereits Abend für Abend mit Veranstaltungen aller Art besetzt bin. Für den einzigen, an dem ich noch frei bin, klicken Sie hier!
Aber ich weiß gar nicht, ob ich das will.
Ich weiß gar nicht, was ich hier überhaupt noch soll.
Ich weiß nichts mehr, weil es, wie es mit dir war, schön genug war. Aber nur für mich. Ich weiß nicht, was du jetzt bist, aber ich bin nicht mehr der Konzertsaal, der ich mal war. Vielleicht war ich auch nie der Konzertsaal, der ich mal war. Ich warte auf nichts neues. Höchstens auf meinen letzten großen Auftritt, als Statist. In einer historische Revue mit all deinen Verflossenen, auch den verflossenen Räumen, den hinweggeflossenen.
Bis dahin kann ich mir einen neuen Haarschnitt besorgen oder das Dach zerbomben und neu machen lassen, ich kann meinen Personal Trainer täglich nerven und Gewichte liften oder meinen Arsch liften lassen und mir im Keller, neben den Goldmosaiken, einen Bunker einrichten, kann mir eine Bäder- und Dusch-Ausstellung in den Vorraum bauen, wo sich Keramik, Marmor, Spiegel, Diamanten, Leuchten und Transparenz überbieten, bis sie bersten.
Und am Anfang werden alle sagen, jaja, kaum hat er sich getrennt, sieht er auch schon wieder ganz aus wie neu. Und alle werden denken, daß ich beschönige und mich selbst als etwas darstelle, das ich nicht bin. Und ein paar Jahre weiter, und nichts daran wird mehr aussehen wie Beschönigung oder falsche Darstellung. Dann ist das einfach Dekoration.
I know that it’s real but I want it to be fake so bad.

Klappentext [statt Klappensex]
Bei der Recherche zu einem sagenumwobenen Konzertsaal, der sich irgendwo in der Mitte Berlins befinden soll, sind wir auf ein Romanfragment gestoßen: Ruhm und Erschöpfung. Entstanden ist der Text in der späten Weimarer Republik, beziehungsweise in den ersten zwei Jahren der Nazi-Diktatur.
Verfasser ist Reinhold Franz Lindner, der ursprünglich als Schüler Schönbergs Komposition studiert hatte, sich aber nach 1924 von der Musik ab- und dem Schreiben zuwandte. Unter Pseudonymen fabrizierte er Folgen diverser Groschenromanserien, unter anderem John Kling und Grausame Tanten. Von Texten, die unter Klarnamen verfasste, sind neben dem Romanfragment nur Glossen und Gedichte in Zeitungen, Magazinen und auf Fotografien von Litfaßsäulen erhalten geblieben. Dabei wechselt Lindner oft von Text zu Text radikal seinen Stil – von Neuer Sachlichkeit bis zum surrealistischen Automatengedicht.
Das Romanfragment Ruhm und Erschöpfung lebt ebenfalls vom fast täuschend ähnlichen Kopieren der Schreibstile anderer, unter anderem von Klaus Mann, Lion Feuchtwanger und Honoré de Balzac. Ob das Fragment immer nur Fragment war oder durch die Kriegswirren erst dazu wurde, versuchen wir derzeit zu eruieren.
Im weiteren hören Sie einen Auszug aus dem Fragment. Eine sechzehnstündige Hörbuch-Edition erscheint exklusiv am Ende dieser Nacht. Ganz von allein. [ERSCHEINUNGSTUSCH!]

Auszug aus dem II. Kapitel von Ruhm und Erschöpfung von R.F. Lindner
Mit der Hektik einer jungen Can Can-Konkubine huschte die kühle Dame von dannen. Ludwig Lust blieb zurück, als Gegenpol dieser Hektik, als Antarktis, ungestört durch die Bewegungen der Arktis, dieses von Eis überzogenen Meeres. Ungestört? Scheinbar. Doch so sehr er das fühlen wollte: Sein gestärkter Hemdskragen stärkte ihn keinesfalls, sondern ließ ihn nur das eigene steife Dasein in diesem Moloch spüren. Ach, wäre er doch nach Paris gegangen oder Damaskus oder ins ferne China. Doch diese Stadt, die nach den Sümpfen genannt, sie wollte ihm und seiner Steifheit immerzu entgleiten und entfleuchen, entweichen. Das Gehüstel und das Gelächter um ihn herum, wem galten sie? Ihm? Nun löschte man die Lichter im Saale, und die großen Gasscheinwerfer über dem goldenen Portal nahmen ihre Arbeit auf, sie, deren Ausbeutung milder war als die jener Bühnenarbeiter, die sie bedienten.
Die Pause war beendet. Ludwig Lust hoffte aus tiefstem Herzen, der Platz, den er eingenommen hatte, bliebe leer, hoffte, daß die dort zuvor Gesessenen nicht zurückkämen, daß niemandem offensichtlich würde, daß er nicht zu dieser Gesellschaft gehörte. Noch nicht.
Auf der Bühne des Saales erschien im Kegel aus Licht die Künstlerin des Abends, eine Tänzerin, von der er seit seiner Ankunft in der großen Stadt fast täglich gehört, um sie nun mit eigenen Augen zu sehen. Von der Empore herunter sahen die Augen des Ludwig Lust den Körper jener Frau. Er schielte auf das Papier, das die Dame links von ihm in ihren in die Jahre gekommenen, aderigen Händen hielt. Groß überschrieben war es mit: Gesprochene und getanzte GROTESKEN. Und darunter: Valeska Gert. Es folgten die Szenen der Vorführung. Der Teil, auf den alle mit erhobenen Brauen und gehaltenem Atem warteten, trug den Namen: Kanaille. Am Flügel: Maria Kalamkarian. Die Kostüme sind nach eigenen Entwürfen angefertigt. Während der Vorträge bleiben die Saaltüren geschlossen.
Was dann geschah, würde Ludwig Lust am Tage darauf Hans, dem anderen Pagen, im Hotel nicht erzählen. Und wenn, würde er dabei erröten. Errötend würde er erzählen: Diese Tänzerin tanzte nicht. Sie ging zunächst im Licht der Scheinwerfer auf und ab, und allein am Gang war zu erkennen, wer sie war. Ein leichtes Mädchen ging dort im Licht. Es ging von einer Seite der Bühne zur anderen. Einmal tauchte es ins Dunkel, der Kegel war zu langsam. Dann sprach das leichte Mädchen zu jenen Herren, die zu ihm kamen, um es zu bezahlen. Doch diese Herren waren nicht auf der Bühne. Sie waren auch nicht vor der Bühne. Sie waren nicht da, und doch sprachen die Hände, der Hals, die Schultern, die Haare, die Füße und Beine, sprachen selbst die Brüste zu jenen Herren. Ludwig Lust ward erst heiß und dann kalt, eine kühle Hitze und eine hitzige Kälte ergriffen ihn. Er schloß die Augen, um vorm Herrgott um Vergebung zu bitten. Und hörte die Menschen flüstern, dann zischen, dann ausrufen und in Ohnmacht fallen. Das leichte Mädchen lag auf der Bühne, in Krämpfen. Die Schenkel geöffnet, krampfte ihr Körper, als wäre sie vom Leibhaftigen besessen.
Der Leibhaftige, würde Page Hans am Tag drauf im Hotel fragen. Das war nicht der Leibhaftige. Und erst da ward Ludwig Lust bewusst, was er gesehen.

Synthetische Areale
This time is available.
This time is available.
This time is available for us.
Glaubst du, wir werden wieder feiern? Glaubst du, wir werden jemals wieder richtig feiern? Glaubst du, wir werden niemals wieder feiern, ohne daß die chemischen Verbindungen uns erst verbinden müssen?
This time is available.
Und wenn wir feiern: Brauchen wir nur UNS? Nee, nicht nur. Wir brauchen auch die anderen. WIR feiern, und die anderen sollen da stehen und sehen, wie geil wir sind, wenn wir feiern. Und nicht nur wir: die Zeit, wir haben so eine geile Zeit, und die haben sie NICHT.
This time is available.
This is our time to be available.
Ich kann diese Partytouristen nicht mehr ertragen.
Da hilft nur eins: selber Party machen. Hart Party. Aufi! Stop! Was ist los? Warum sehe ich nichts? Vor zwei Wochen war noch dieser Konzertsaal hier, in dem wir hart feiern gingen, als würden wir ihn abreißen. Nein, als würden wir uns selbst abreißen, mit allen Mitteln, die uns zur Verfügung stehen. Und nun kommen wir her und da ist NICHTS?
Warum sehe ich nichts?
Ein einziger Raum kann uns völlig in Beschlag nehmen, kann uns besetzen, und wir müssen tagelang in ihm feiern.
Mit aktiviertem Ad-Blocker können Sie diesen Raum nicht mehr sehen!
Vor Jahren, bevor diese Stadt bombardiert wurde und dann wieder aufgebaut und durch die moderne Architektur wiederum bombardiert, da gingen wir feiern in diesem Saal, und jetzt ist er WEG?
Nein. Den Flügel und die Harfe ersetzten die Badewanne und die Toilette. Sorry. Get over it.
Aber wieso ist dieser Raum verschwunden? Wieso ist er nicht mehr für alle da?
Er war nie für alle da. Und jetzt raus, ich will mein Pausenbrot essen und dann weiter Keramikschüsseln verkaufen. Aus den Augen! Du und deine Event- und Locationsucht.
Unerwartet begrüßten uns die Ruinen mit Wärme und Freundlichkeit.
Wieso soll ich einen Raum ansehen und NUR einen Raum sehen? Wieso soll ich einen Raum nicht auch als Location sehen? Und wieso nicht nur als Location? Auch die Gebäude sind schließlich Teil der Selbstverwirklichung.
Das sind ja bestimmt alles Künstlernamen hier.
Vom Konzertsaal zum Konzeptsaal – eine Aufstiegsstory.
This space is available.
This space is not available.
This Konzertführer is available. And it says: Wehe dem kühnen Schwimmer, der sich unberaten in die Wogen unseres Konzertlebens stürzt, er wird bald ermattet dem Ufer zustreben! Wir brauchen den Leser nicht durch statistisches Gestrüpp zu bemühen. Einige Impressionen sollen die Poesie der Quantität klar machen helfen, von der unsere sonst so nüchterne Stadt umflossen ist.
Über allen Gipfeln ist Ruhm. In allen Wipfeln wartet Boom.
But this space is not available.
Die Verfügbarkeit der Räume. Die Verfügbarkeit der Dinge. Ich muß auch nicht mehr ins Kino gehen, dieses Zusammenhocken von Menschen, die sich überhaupt nicht kennen, was soll das noch sein?
Dabei ist sie noch gar nicht so alt. Doch trotz ihres materiellen Wohlstands empfindet sie mit zunehmendem Teenager-Alter eine Leere und Erschöpfung, die Ruhm und Anerkennung nicht zu füllen vermögen.
Du und dein Beverly Hills 90210-Charme.
Besser als dein 1910-Charme.
Oh nein!
Dieser Konzertsaal, der so was wie die reiche Dame des Hauses ist, die mal Kunst- oder Musikgeschichte studiert hat, aber heute nichts mehr zu tun hat, außer, jaha!, außer bei Feierlichkeiten erhaben zu wirken und verdammt noch mal charming. Und im stillen leidet sie, sie leidet, leidet, sie leidet so sehr, weil sie immer nur darstellen muß, aber nicht weiß, was.
This space is available for what?
Da sie als erfolgreiches Model Wert auf ihr Image legt, wolle sie nicht mit der umstrittenen Reality-Sendung ihrer Familie in Verbindung gebracht werden. Der einzige Ausweg: ins Wasser gehen.
I am really good at: dying.
Der innere Schein kann trügen: kollabierte Areale, die vor Fleiß und Output sprühen, in den Augen der Öffentlichkeit glühen, und dann: Breakdown. Burnout. Buyout.
This space is not available anymore.
Ein einziger Raum kann uns völlig in Beschlag nehmen, kann uns besetzen, und wir müssen ihn stundenlang anschauen, in ihm umhergehen, den Wandel des Lichts beobachten. Als wäre er ein Mensch, den es um nichts in der Welt loszulassen gilt. Letztlich können die Gebäude eben auch nichts für unsere Erbärmlichkeiten, doch SIE sind es, die es aushalten müssen, wenn Menschen sie ansehen und sagen: Irgendwie traurig.
I am really good at: crying.
I am really good at: sighing.
I am really good at: being a recording venue for Deutsche Grammophon AG.
Und nun, bitte, massier mich. I need a good, good rub. No, not like that. An ego rub. Just show me how much you desire me. Even if you desire yourself more than me. Just as I desire myself more than you. Gimme a rub and tell me: I love you. Even if I don’t love you, I love you.

Stille Korrektur
Ich hab jedes Mal die Dinge abgebrochen im selben Moment, wo sie anfingen, zum Erfolg für mich zu werden, das ist ein Malheur.
Früher, bevor ich auf die Schauspielschule ging, habe ich Konzerte fotografiert. Und oft konnte ich gar nichts hören, weil die Bilder stimmen mußten und mich dadurch so besetzten. Dann hörte ich auf. Zwei Monate später wäre ich eine Starfotografin gewesen. Seitdem bin ich bei Konzerten ohne Fotoapparat da und finde ich mich jedes Mal in eine Ecke gedrängt, hinter den Lautsprecher, auf den Gang oder auf den Boden, das Gesicht nach unten, die Menge auf meinem Rücken trampelnd, so daß ich jetzt alles HÖRE, aber nichts mehr SEHE. Herrjemine.
Und immer, wenn ich  selbst auf der Bühne stehe, sehe ich noch viel weniger, weil die Scheinwerfer mich blenden. Meist bin ich ganz froh, dann wenigstens zu wissen, wo genau ich gerade langlaufe, langtanze oder langrobbe, wieso ich in ein Mikrofon spreche oder ins lichte Nichts vor mir, ob ich das Rokoko-Kostüm trage oder das Pailettenkleid oder das Palettenkleid.
Das Zuhause trägt man immer mit sich herum. Ich hab schon so viele Rollen gespielt, in denen ich in Bühnenbildern umherlief, die SEHR luxuriös waren, und zuhause krieche ich dann zurück in meine Kammer. Und ignoriere ihre Mängel. Und sie ignoriert die meinen. Wir Bruchbuden, die nicht mal drauf warten, weggentrifiziert zu werden.
So ziehe ich mich immer öfter und immer tiefer in diese Kammer zurück. Ich kann nicht anders. Ich muß mich vor den Kräften der Kollektivierung schützen und vor den Kräften der Privatisierung erst recht, immer tiefer geht es in mein stilles Kämmerlein.
Ich hab diese Stadt satt. Ich war in sie verliebt, doch das ging vorbei. Ich hab gelogen, wenn ich ihr in Gebärden, Toiletten, berechneten Worten eine Persönlichkeit hinstellte. Ich polierte meine Waffen, doch kämpfte ich nicht. Ich überlegte meine Schminke und plante die Taktik. Ich war mal inspirierend, doch war ich ein Provisorium, und beide, Inspiration und Provisorien, kann man nicht unbegrenzt verlängern.
Wieso sollte die Liebe zu Räumen länger halten als die Liebe zwischen Menschen? Nur daß Räume oft so viel länger bleiben und so viel mehr und anderes erleben als wir, und daß sie, wenn sie sich verändern und uns zurücklassen, überhaupt nicht trauern. Sie wissen, daß sie es nicht nötig haben. Ich es nicht nötig habe. Meine Aufführungen werden nicht mehr unsicher und vorläufig sein, sie werden gar nicht mehr sein. Ich werde meinen Enthusiasmus nicht mehr für die aufsparen, denen ich ein Schauspiel schulde. Ich werde es lassen, und wenn ich es lasse, werde ich umso mehr strahlen. Und niemand wird es sehen.
Aber irgendwo, irgendwo wird sich etwas öffnen, und seien es nur meine Augen, die sie weinen. Die Tränen der Kapitulation.
Ich dachte immer, alles könnte einem Menschen geschehen, der bereit ist, sich auf ALLES einzulassen. Dann hört ich auf mein Herz. Seit es unregelmäßig schlägt, denke ich, daß es sich mit mir unterhält. Im Morsecode.

Auszug aus dem IX. Kapitel von Ruhm und Erschöpfung von R.F. Lindner
Er war ein Nachtfalter. Er umschwirrte die Konzertsäle der Stadt, als wären sie die stählernen Hülsen starker Scheinwerfer. Doch was den Falter lockte,das war drinnen.
Ludwig Lust umschwirrte den Saalbau, schwirrte die Straße entlang, schon am späten Nachmittag trug er den Frack. Vorbei am Maggihaus, am Restaurant-Garten der Victoria-Brauerei, am Kolonialhaus, an Friedrich Festersen’s Kunsttöpferei, an der Manufaktur für Notenschreibmaschinen, vorbei, vorbei … Und zurück. Und wieder zurück. Und das Licht ließ den Falter warten. Wo wird es leuchten, wo, wo nur, wo, dachte Nachtfalter Ludwig Lust.
Er war dort. Er war DORT. Dort, wo alle waren!
Ludwig Lust hielt sich ein Notizbuch mit einem kleinen Bleistift, der zu jenem kleinen Schnurrbart über seiner Oberlippe paßte. Dorthin kritzelte er die Eindrücke, die sich aufdrängten, während der Konzerte. Er genoß das hochachtungsvolle Nicken des Gymnasialprofessors oder das neidische Herüberblicken des noch jüngeren Dichters, der aus einer noch weiter entfernten Provinz gekommen war, noch Fuß fassen mußte und überall auf moorigen Untergrund trat. Er genoß das Zwinkern der Damenwimpern über den Fächern.
An anderen Tagen war ihm alles zuwider. Sein Zylinder drückte, seine Haut war durch die Rasur beim Barbier irritiert. Und er dachte sich, daß die gesamte menschliche Gesellschaft nur eine Irritation des rasierten Erdballs war.
Mittags, hatte er das Brotgeschäft in der Zeitung beendet, kehrte er bei Nototyp ein, wo Wilhelm die Buchstaben der Notenschreibmaschine ordnete, die keine Buchstaben waren. Wenn der Meister aus dem Hause war, probierten sie die Schreibmaschinen aus. Sie nahmen die Gedichte von Rilke, George oder Kästner und tippten sie ab. Die Noten als Buchstaben, die Gedichte als Sinfonien. Die Freunde scherzten, dies sei mehr Avantgarde als die Avantgarde. Und sie gaben voreinander nicht zu, daß es im tiefsten Inneren kein Scherz für sie war.
Die Papiere fanden ihren Platz dennoch im Abfall von Nototyp. Sie waren nichts. Niemand würde sie jemals spielen.
Und den Gedanken, den Ludwig Lust nicht denken konnte, nicht zu diesem Zeitpunkt und auch nicht später, war jener: Wieso muß eine Sinfonie gespielt werden, um etwas zu sein?

The blankspace in me is the blankspace in you
Wieso bekomme ich in meinem Datingprofil nur Anfragen aus Marzahn? Was zum Teufel mache ich falsch? Oder mache ich gar nichts falsch, sondern, im Gegenteil sehr, sehr richtig? Wenn in zehn Jahren alle nach Marzahn drängen, um die Bewohner der Platten zu verdrängen und selbst in Trainingshose und Goldkettchen durch den Kiez zu laufen, bin ich längst da und wohne in der Eigentumswohnung von Silvio, meinem Sportwagenmacker.
Wenn ich zurückdenke, zehn Jahre zurück und dann noch mal zehn Jahre, was hat sich in dieser Zeit verändert an uns? Nicht viel. Inzwischen tragen wir dieselben Klamotten wie vor zwanzig Jahren, nur sind die Schnitte ein bißchen anders, und die ein oder andere Falte sitzt, wo sie vorher nicht saß. Zum Glück nicht im Gesicht.
Was machte diese Stadt vor zwanzig Jahren aus? Dieses Paradoxon, daß alles, jeder Straßenname und Kopfsteinpflasterstein, jede Brücke und jedes Ufer, jeder Park und jedes Flugfeld, jede Renovierung und jede Rekonstruktion randvoll mit Geschichte waren. Und gerade deshalb, weil niemand ihr entgehen konnte, der Geschichte, schien alles leer, so leer, daß wir unsere Geschichtchen auf sie projizieren konnten. Und manches flackerte da kurz auf und war schnell wieder weg. Und manches gehörte auf einmal dazu. Und das mochten wir. Wir mochten es, damit zu spielen. Wir stellten schnell neue Projektionen her und warfen sie auf die Leerfläche, die sich als Gegenteil einer Fläche entpuppte, warfen sie in diesen überfüllten Leerraum, der Börlyn nun mal war. Wir schöpften das und warteten ab, was aus dieser Schöpfung würde.
Und wir selbst waren Teil der Schöpfung, denn uns, wie wir dann waren, uns gab es ja nur, weil das, was wir schöpften, hier möglich war. Und als Teil dieser Schöpfung warteten wir auf Erlösung. Und die kam, um zuzubeißen, oder zuzuküssen, ein Knutschfleck war das mindeste, was blieb, in diesem zärtlichsten aller Kämpfe.
Ich will das wiederhaben. Will das so gern wiederhaben. Ich hätte das alles so gern wieder.
Zu spät. Und jetzt hört bitte auf, von Schöpfung zu quatschen. Nein. Nein, nein, doch nicht, quatscht weiter. Quatscht am besten nur  über diese Schöpfung und schöpft nichts mehr. Die kuratierte Wirklichkeit ist hier, um eure Qualen zu lindern. Die kuratierte Wirklichkeit simuliert die Schöpfung und sie simuliert auch die Orte, an denen geschöpft wird: Staubfreie weiße Würfel und von Weißen verstaubte schwarze Boxen. Synthetische Holzterrassen über synthetischen Flüssen, an den Ufern Bäume, synthetisch und natürlich angestrahlt. Jahrmärkte voller Drogen, auf denen die Freaks und die Exoten immer nur Freaks und Exoten sein werden, nie weniger. Das alles ist DA!
Ich will auf nichts verzichten. Ich will auch nicht gewichten. Ich will auf nichts verzichten. Verzichten. Verzichten. Verzicht.
Das ist kuratiert! Und es ist so gut kuratiert, daß es besser als jede Schöpfung ist. Und so können diejenigen, die eigentlich schöpfen sollten und wollten, in Ruhe über das Geschöpfte reden. Und reden. Und es so erlösen.
Schöpfung und Erlösung.
Erschöpfung und Erlösung.
Erschöpfung und Lösung.
Daß Dinge, die uns wahnsinnig gut tun, uns gleichzeitig auch nicht gut tun. Als ich noch der Ort war, den du gewählt hattest, der Ort, wo du rumhingst und all das, da hätte ich mir nichts Schöneres träumen lassen. Keine goldenen Portale oder Stofftapeten hätten mich noch schöner gemacht. Und doch stehe ich jetzt hier, nach dieser Zeit, und kann die grauen Haare zählen und mich fragen, ob Schönheit und Sorgen einfach dasselbe sind und nur mal so aussehen und mal so.
Ich wollte eine Lücke besetzen. Ich wollte eine Lücke. Ich wollte und wollte und wollte so gern deine Lücke besetzen. Was bleibt?
Fünf Kilogramm Glitzer, dreihundert künstliche Wimpern und ein mehrfach gebrochenes Herz.
Ach, laßt uns über ein paar unkompliziertere, gefälligere Dinge sprechen. Architektur etwa. Am meisten haben mich Gebäude eigentlich angesprochen, wenn sie leer waren. Irgendwie hatte ich dann das Gefühl, daß sie, die Gebäude, dieses Leersein auch genießen. Ihr Leersein und ihr Schweigen. Welcher Büroturm, welches Stadion, welches Museum hat dir je zugeflüstert, wieviel Schweiß und wieviele Tote nötig waren, um es zu bauen, wieviele Insolvenzen, Verzögerungen, wieviel Angst und Staub und wieviele Lügen?
Lücken.
Wir wollen eine Lücke besetzen. Wir wollen eine Lücke besetzen. Wir wollen und wollen und wollen so gern eine Lücke.
Doch wir sind leer und schaffens nicht. Wir sind so leer, wir schaffen in dieser Lücke nichts. Nicht mal, die Tatsachen zu verschleiern, die das Bühnenbild vermitteln will.
Und wenigstens seid da ihr. Diese Stadt schrumpft zusammen, sie schiebt sich in die zweite Dimension und füllt sich, doch wenigstens seid da ihr.
WIR?
Es gibt Phasen, in denen sind wir auf einmal zusammen kraftvoll sind, sehr, sehr kraftvoll, obwohl wir einzeln total erschöpft sind, und dann die Phasen, in denen wir alle einzeln so vor Kraft strotzen, daß wir zusammen nur eine große Erschöpfung bilden, die nichts mehr kann.
Wir wollen eine Lücke besetzen. Wir wollen eine Lücke besetzen. Wir wollen und wollen und wollen so gern eine Lücke besitzen.
Und dann lassen wir, und dann lassen wir, und dann lassen, lassen, lassen wir diese Lücke Lücke sein.
Laßt uns die Leere wählen!
Laßt uns die Leere wählen!
Laßt uns die Leere, laßt uns, laßt uns, ja, laßt uns die Leere wählen!
WÄHLEN WIR DIE LEERE!
DIE LEERE! DIE LEERE!
[Die Leere, die Leere, die Leere, die Leere, die Leere, die Lee-e, d-e Lee-e, d-e Lee–, d– Lee–, d– Le—, d– L—-, — L——!]
Ich war nie nüchtern bei diesen Veranstaltungen und dachte immer, es sei doppelt so viel an Publikum da.

Karl Kraus liest vor im Konzertsaal
438. Vorlesung am 24.03.1928:     Jaques von Offenbach – Die Großherzogin                     von Gerolstein
439. Vorlesung am 25.03.1928:     Jaques von Offenbach – Blaubart
440. Vorlesung am 26.03.1928:     Jaques von Offenbach – Madame L’Archiduc
441. Vorlesung am 27.03.1928:     Jaques von Offenbach – Pariser Leben
442. Vorlesung am 30.03.1928:     u.a. Traumstück
443. Vorlesung am 31.03.1928:     Dem Andenken Frank Wedekinds
444. Vorlesung am 01.04.1928 :     Nestroy – Lumpazivagabundus
445. Vorlesung am 02.04.1928:     u.a. die Tafelszene aus Die letzten Tage der                     Menschheit
462. Vorlesung am 01.10.1928:     u.a. Die Räuber in Salzburg
582. Vorlesung am 09.02.1931:     Jaques von Offenbach – Perichole
Check?
Check.

Selma Winther
Selma Winther ist in diesem Jahr 101 Jahre alt geworden und war als Zehnjährige Zuschauerin mehrerer Tanzaufführungen von Valeska Gert, unter anderem in jenem Konzertsaal in der Mitte Berlins, dessen Aufenthaltsort wir Ihnen leider nicht verraten dürfen. Hier ein Auszug aus dem Gespräch:
Frage: Wie kam es, dass Sie als junges Mädchen Valeska Gert sehen durften, wenn man bedenkt, wie skandalös ihr Schaffen in jener Zeit war?
Selma Winther: Ich wuchs, wie schon gesagt, im Waisenhaus auf. Die Erziehung durch die Schwestern war streng, Disziplin war alles. Doch es gab eine unter ihnen, Schwester Amalie, die es nicht so ernst nahm. Offiziell schon, aber nicht, wenn sie mit uns Mädchen allein war. Bis heute verstehe ich nicht, wie sie ihr Gelübde Gott gegenüber und ihre Begeisterung für das Skandalöse übereinbringen konnte. Aber sie schaffte es. Sie nahm mich und zwei andere Mädchen aus dem Haus mit in den Konzertsaal, von dem wir vorhin sprachen. Dort sah ich Valeska Gert zum ersten Mal.
Frage: Können Sie beschreiben, was Sie faszinierte?
Selma Winther: Daß sie nicht heilig war. Und dadurch umso heiliger. Oder vielleicht war es ein anderes HEILIG.
Frage: Was genau machte sie anders?
Selma Winther: Sie stand dort und zuckte. Sie warf ihre Arme von sich und ließ ihr Gesicht entgleisen. Dann zog sie alles zusammen. Dann warf sie es von sich. Es war das Gegenteil dessen, wovon wir Mädchen im Waisenhaus träumten, wenn wir uns erzählten, wir würden Ballett-Tänzerinnen werden und ewig jung und schön um die Welt reisen. Sie zuckte und taumelte und schrie oder ließ hinter den Kulissen andere schreien und warf sich hin und stolperte beim Aufstehen und riß sich wieder hernieder. Und der Saal, also mit dieser sehr schönen, aber doch konventionellen Pracht drumherum, der ließ sich das gefallen. Der spielte mit. Der war, was er sonst auch war, aber als Valeska Gert dort taumelte, war er auf einmal noch viel mehr. Es war so, als würde er erst jetzt, mit dieser neuen Sprache, mit einer Sprache, die ein Körper nie hatte sprechen können, erst selber sprechen können.
Frage: Und was sagte er?
Selma Winther: Danke, daß ich einfach da sein kann für dich.
Das war ein Auszug aus dem Gespräch mit Selma Winther. Ein Auszug aus dem Gespräch über den Konzertsaal. Ein Auszug aus dem Konzertsaal? Wer zieht aus? Exodus. Er. Ist längst weg. Wir werden ihn nie wiedersehen. Es war sehr schön mit dir.

Lust und Verzicht
Ehm, where were we?
Just leavin’.
Toll. Und ich dachte, ich hab endlich jemanden gefunden, der ein paar Jahrzehnte bleibt. Damals, nach dem Krieg, hatte ich auch diese wechselnden Liebschaften, und jedes Mal, wenn die kleinste Kleinigkeit oder die größte nicht stimmte, hab ich alle Register gezogen und gerufen:
RAAAAAUUUUUS!
Irgendwann war es selbst den engsten Freunden zu viel, und zwei von ihnen brachen zusammen. Und weil ihre Mauern direkt an meinen lagen, brach an beiden Seiten ein Stück der Wände weg. Zum Glück hab ich mir kurz noch einen Typen angelacht, der mit seinem Spritzbeton die Leere wieder füllte.
Das war Sichtbeton. Meine Sicht, gegossen in Beton: Ich will auf nichts verzichten.
Verzicht, das Leben einer Klosterschülerin? Naa, ßicherlich nicht! Wieso soll ich einen Raum ansehen und schön finden und attraktiv und geil und ihn NICHT bekommen können? Was soll das? Wieso soll ich mich zurückhalten und die saucoole Industriehalle NICHT bespielen? Oder den ausgebrannten Festsaal. Oder den leeren Schleckermarkt. Das ist mein Trieb. Wir sind Kreative, das heißt, wir haben Hormone, und die sagen: ICH WILL. Und ich bin gewöhnt, zu bekommen, was ich will. Und ich will: KLICKEN!
What?!
This space is not available.
This space is ___ available again.
Das Paradies! So viele schöne Menschen! DA! MUSS! MAN! SICH! AUSTOBEN! So viele geile Orte! Das Paradies!
Paradies und Hölle können EINE Stadt sein.
Du siehst umwerfend aus. Aber dein Tattoo disqualifiziert dich leider als potentiellen Partner. Sorry.
Nur wegen des Rechtschreibfehlers?
Du hast dir statt Hobby Lobby tätowieren lassen.
Die Dissonanz, die durch ein falsch geschriebenes Wort entsteht oder durch einen Unterrock, der hervorlugt. Und vielleicht werde ich dadurch erlöst. Weißt du, noch bevor dieser Konzertsaal, den du gerade anschaust, wenn du mich anschaust, noch bevor der da war, war seine Erlösung da. Und vor der Erlösung war der Konzertsaal. Und vor dem Konzertsaal die Erlösung. Oder wars die Rettung?
Ich ruf gleich die Rettung. Wenn ich dich mit dieser Badezimmerkachel vermöbelt hab. Die ist nämlich aus SICHTBETON!
Meine Sicht wird betont.
Nein, MEINE! Oh, entschuldige, wir sind ja zusammen, und manchmal muß man dann eben eine andere Perspektive ausprobieren als die, die man schon hat. Um dann doch wieder zur eigenen zurückzukehren und zu sagen:
Du kannst mich nicht retten.
Hab ich das je gesagt?
Nein, aber ich. Ich hab gesagt, du sollst mich retten. Und als Gegenleistung bleibe ich bei dir. Und als Gegengegenleistung dafür, daß ich bei dir bleibe, obwohl da draußen noch viel schönere und hochwertigere Orte existieren als du, als Gegengegenleistung –.
Was ist unter: RETTEN bitte zu verstehen? Das hier würde ich gern retten, aber es ist immer zu spät:
Die vielen unnötigen Gesten und Worte, die aus deinem Körper herausfallen, wenn du redest, ohne vorher nachzudenken, und redest, ohne währenddessen nachzudenken oder danach.
Die Empfindungen, die da sein müßten, aber selbst, wo sich etwas regt, weigerst du dich, die Empfindung Empfindung zu nennen.
Die Blitze von Ideen, die dein Leben verändern sollen und nur für einen Tag halten, maximal.
Die Infusionen dramatischer Diskussionen in unser Leben.
Die dramatischen Infusionen des Kapitals in unser Zusammenleben, egal, worüber wir reden, am Ende trägt immer die Ökonomie den Primat davon, ein Baseballcap mit Lorbeerkranz.
Und dann noch: die Kunstwerke und die kreativen Spielereien und die Startups und die Apps und die Clips.
All das wird niemals gerettet, es ist immer schon dabei, zugrunde zu gehen. Und das gewissenhafte Gedächtnis und das Archiv der Erlösung sind nicht mächtig genug, um sich dagegen zu stemmen.
Ein Archiv? Das fehlt mir sowieso. Die eigene Geschichte muß man sich auch erst mal erarbeiten. In der Zwischenzeit tritt die Kunst in ihrer Ausstattung in den Dienst des Kaufmanns, pudert sich kurz das Näschen und haucht:
Ein Mix aus 1916 und 2016 hat noch nie so gut ausgesehen.
Die Kinder von Jazz und Kokain. Die Kinder von Marx und Coca Cola. Die Kinder von Tinder und Mate.
Wir suchen noch Kooperationen. Und du siehst umwerfend aus. Aber dein geschmackloses Wand-Tattoo disqualifiziert dich leider als potentiellen Partner. Je suis desolée.
Das wirft mich um. Wenn dieses Wand-Tattoo – das Ineinander einer Klobürste und einer Violine – wirklich ist, wirft mich das wirklich um. Ich muß heulen. Alles geht zugrunde, und ich heule. Ich bin Iblis, jener Engel, von dem die Muslime wissen, er weint, weil er nicht vom Werk der Schöpfung lassen kann, seine Augen nicht davon lösen kann. Ich habe das Gewissen der Augen. Und das wird gequält, weil es Zeuge ist, Zeuge, wie diese Stadt zugrunde geht. Und selbst wenn alle Werke in Vergessenheit geraten und alle Zeichen unlesbar geworden sind, weil sie viel zu lesbar sind, selbst dann wird Iblis weiter weinen und nicht sehen, daß nur die Schöpfung weg ist, aber die Erlösung nicht.
Wie sieht Erlösung aus? Wie dein Ex-Girlfriend oder -Boyfriend, die oder der am Ende einer langen Hochzeitsfeier mit einem Glas Wein in der Hand vor dir steht, dich mustert und sagt:
Hach, es ist schön, daß wir uns wieder verstehen. Beim nächsten Mal, wenn wir uns sehen, bin ich sicher schwanger oder verheiratet oder beides, und beim übernächsten Mal habe ich einen Führungsposten in einem Daxunternehmen oder eine hohe Position in der Politik, beim überübernächsten Mal tollen meine Enkelkinder um uns herum, und beim letzten Mal sitzt einer von uns an der Trauertafel des anderen. Also, bis dann.

Applaus ohne elektrisches Licht
Manchmal vergißt man die Dinge, die man vergessen will. Und manchmal die, die man nicht vergessen will, obwohl man sollte. So wie diesen einen Abend, der so hell war wie kein anderer, den ich erlebte. Es war im Jahr 1863, als ich auf der Bühne stand, es war mein Debüt in Berlin, und eine der Fackeln, die die Bühne erhellen sollten, erhellte mich, aber viel mehr, als ich erhellt werden sollte, wollte. Ich stand in Flammen, genauer, mein Unterrock. Und Sarah Smith, ja, sie hieß so, meine Gegenspielerin im Drama und Partnerin auf der Bühne, kam auf mich zu, und ich sah die Gedanken, ich sah, daß sie dachte: Ich muß sie retten, mit meinem Kostüm, meinem unbrennbaren, unentflammbaren Kostüm, damit werde ich ein Leben retten, ja, werde ich, dachte sie und kam auf mich zu, legte ihre Arme um mich, legte ihren Mantel um meine Schultern, und schnell, viel schneller als ich, stand sie in Flammen, ihre Perücke, ihre parfümierte und gerougete Haut und vor allem das unentflammbare entflammbare Kostüm, und am Ende, am Ende kam ich mit Verbrennungen zweiten Grades davon, und sie kam um.

Korallentod / U-Boote aus Riefenstahl
War Alfred Riefenstahl Besitzer eines Installateurbetriebs?
War seine Tochter Leni Mitglied im Charlottenburger Damen-Schwimmclub Nixe?
Tanzte Leni Riefenstahl als Teenager in einer Aufführung in jenem Konzertsaal in der Mitte Börlyns, um den sich hier alles dreht?
Tanzte sie in diesem Saal einen Tag, nachdem Valeska Gert dort getanzt hatte?
Ersetzte Leni Riefenstahl an jenem Abend Anita Berber in dieser Tanzaufführung?
Wurde Leni wegen jener Vertretung Anita Berbers, jener Tanzvertretung, die dem großen Maître d’installation Alfred Riefenstahl nicht gefiel, in ein Internat im Harz gebracht?
Übte sich Riefenstahl dort weiter in Tanz?
Und kannten sich also Leni Riefenstahl und Anita Berber, jene Anita Berber, die Smoking trug, mit Frauen wie Männern Sex hatte, Drogen konsumierte und in Damaskus auf der Bühne zusammenbrach und starb?
Nahm Leni Riefenstahl niemals Drogen?
Wurde sie deshalb einhundertundein Jahre alt?
Studierte die Riefenstahl in den Zwanzigern bei Mary Wigman?
War der Film Der Berg des Schicksal ihr einziger Grund, Schauspielerin zu werden?
Traf sie sich daraufhin zufällig Luis Trenker in einem Dolomitendorf?
War Luis Trenker auch Schriftsteller?
Vermittelte Trenker sie an Arnold Franck, der wiederum für Leni das Drehbuch zu Der heilige Berg schrieb?
Erhielt sie für ihre Rolle in Der heilige Berg zwanzigtausend Reichsmark?
Spielte sie fast das Gretchen in Murnaus Verfilmung des Faust?
War sie zu dieser Zeit drei Jahre mit Hans Schneeberger liiert, einem Bergsteigerschauspieler?
Spielte die Riefenstahl vor allem in Bergsteigerfilmen?
Kehrte sie später dem Bergsteiger-Genre den Rücken?
Kehrte sie noch später zum Bergsteiger-Genre zurück?
Nahm Leni Riefenstahl Anfang der Dreißiger Sprechunterricht, um den Sprung in den Tonfilm zu meistern?
Katapultierte dieser Sprung sie hinein in eine Ski-Komödie namens Der weiße Rausch?
Schrieb sie das Drehbuch zu ihrem ersten eigenen Film Das blaue Licht gemeinsam mit Béla Balázs?
Übernahm sie bei Das blaue Licht die Hauptrolle, die Regie,die Produktionsleitung und den Schnitt? Und was noch?
Überzeugte Das blaue Licht die Nazis von Riefenstahls künstlerischer Hochbegabung?
Drehte Leni Riefenstahl von 1933 bis 1945 vor allem Filme?
Plante sie die Verfilmung von Kleists Penthesilea mit sich selbst als Penthesilea?
Zog sie für die Vorbereitung dieses Projekts zurück in die Stille Sylts?
Und fiel sie deshalb in Ohnmacht, als sie an der sogenannten Ostfront, in einer polnischen Kleinstadt, war?
Fiel sie in Ohnmacht, weil sie die Stille Sylts gewöhnt war und die Schüsse an der Ostfront hörte und sich erschreckte?
Sah sie, bevor sie in Ohnmacht fiel, nichts von dem Massaker an polnischen Juden, das in derselben Kleinstadt am selben Tag geschah?
Sind Schüsse aus der Ferne einer Ohnmacht würdig?
Sollte Riefenstahls Film Tiefland ursprünglich in der Tiefsee spielen, nicht in den Pyrenäen?
Wurde keiner von den Sinti und Roma zur Mitarbeit als Komparsen in Tiefland gezwungen?
Sah Riefenstahl die Komparsen von Tiefland alle nach ’45 wieder?
Wurde keiner von ihnen in Auschwitz ermordet?
War Riefenstahls fotografisches Gedächtnis in manchen Situationen leider verschwommen?
Kann der innere Schein manchmal trügen?
Waren Riefenstahls Fotos in Kenia in den Fünfzigern, Sechziger, Siebzigern keine Flucht in die Exotik der Motive?
Waren die Berge zu ausgelutscht als Location und Reservoir für Motive?
Überließ Riefenstahl die Berge wieder Trenker?
Haßte Leni Riefenstahl keinen Mann mehr als Luis Trenker?
Haßte Leni Riefenstahl kein Mann mehr als Luis Trenker?
Spielte niemand überzeugender den aus Südtirol, Italien, stammenden Trenker als der aus Tirol, Österreich, stammende Tobias Moretti?
War Luis Trenker der Onkel von Giorgio Moroder?
Komponierte Giorgio Moroder extra für Leni Riefenstahl die Musik für ihren Film Impressionen unter Wasser von 2002?
Wartete Riefenstahl auf ihren hundertsten Geburtstag, um diesen Film zu drehen?
Lernte Riefenstahl noch mit siebzig Jahren das Tauschen, obwohl das Limit für Tauchschülerinnen bei fünfzig liegt?
Merkte niemand, daß Riefenstahl siebzig war, weil sie mit siebzig aussah wie fünfzig, mit neunzig wie siebzig, mit hundert wie –, keinen Plan?
Suchte Riefenstahl nach der Höhe der Berge und der Weite der Steppen am Ende ihres Lebens bewußt die Tiefen der Tiefsee auf? Oder unbewußt?
Spricht Riefenstahl in einem Interview zu ihrem Tiefseefilm über die armen Korallen, die durch den Menschen vernichtet werden und dann abtransportiert?
Dachte sie dabei nicht an den umgekehrten Ablauf von Abtransport und Vernichtung der Komparsen aus Tiefland?
War Tiefland das Tief dieses Landes?
War Riefenstahl unter Wasser in der Tiefsee ihrer Amnesie angekommen?
Und konnte sie daraufhin, einhundertundeinjährig, wirklich endlich [ENDLICH!] in Ruhe sterben?

Tagebuch eines Mörders
20. November 1930
Gestern: mittags bei Auwi zum Lunch. Viel palavert. Ein schönes, fürstliches Haus. Voll von großen Erinnerungen. Wir haben am herrlichen Kamin gesessen und Auwi hat erzählt.
Zu Hause: Ilse Stahl. Sie ist ein liebes kleines Ding. Und hat ein süßes Herzchen.
Schwechtensaal neues Streichquartett. Der Tod und das Mädchen. Wundervoll. Wie glücklich ich bin, daß wir so etwas haben. Ich rede kurz über Kunst und Bewegung. Dann noch Ansprache zur Totenfeier in Schöneberg. Beides überfüllt.
Mit Chef und Görings zu Abend. Chef ist fabelhaft zu mir. Er steht doch treu zu seinen Leuten. Mich hat er besonders gern. Heute ist er in Dortmund bei den Großkopfeten. Da wird er mich herauspauken.
Noch lange Unterredung mit Hptm. Wagener. Er kommt jetzt viel nach Berlin und arbeitet für die Partei in Wirtschaftskreisen. Leider ist er etwas gelb. Ich konzipiere ein neues Buch: Kampf um Berlin

Exegese und Exodus
Manche Menschen erkenne ich nur an bestimmten Orten, manche nur zu bestimmten Zeiten: bei Tag oder spät in der Nacht, am Mittag oder zu Mitternacht oder in bestimmten Zeitaltern, im Barock oder in den Goldenen Zwanzigern.
Die eigene Geschichte muß man sich auch erarbeiten. So wühlt man sich durch Stadtpläne der vergangenen Jahrzehnte, läuft durch Straßen und rekonstruiert alte Nummerierungen anhand von Parzellen. Meine Mutter wurde im Elisabeth-Krankenhaus geboren und verbrachte ihre Kleinkindheit bis zur Deportation in der großen Straße in der Nähe, daher habe seit jeher ich starkes Interesse an dieser Gegend. Ich wollte schon immer das Jüdische Adreßbuch von Groß-Berlin von 1932 inszenieren. Doch immer, wenn ich auf meinen Archivgängen auf Namen und Adressen stoße und dort nach mehr Material frage, bekomme ich die Antwort:
Dieser Text bezieht sich auf eine vergriffene oder nicht verfügbare Ausgabe dieses Titels.
WAS? Wieso ist sie NICHT verfügbar?
Diese Stadt ist voll, so voll, langsam weiß ich nicht mehr, wohin. Obwohl alles jeden Tag an Materie verliert, sogar meine Tränen [DIE TRÄNEN!], wird die Stadt IMMER voller. Es ist kaum noch Raum da, der verschwendet werden kann. Es ist immer Raum da, der verwendet werden MUSS.
Ich will mich beruhigen. Ich will mich nicht beunruhigen. Will mich nicht beruhigen. Ich will nicht, daß alles so voll und so viel ist.
Ich lese die Tora. Denn die Tora ist voll von Weisheit, wie der Pischonfluß, wie der Tigris in den Tagen der ersten Ähren, es strömt über von Einsicht, ähnlich wie die Flut des Euphrat, ähnlich dem Jordan in den Tagen der Ernte, es fließt von Belehrung über, ähnlich dem Nil, ähnlich dem Gichon in den Tagen der Weinlese. Übervoll wie das Meer ist der Sinn, der Rat ist tiefer als der Ozean. Ich selbst, die Weisheit, bin wie ein Bewässerungsgraben, wie ein Kanal, der hinabfließt zum Garten. Ich dachte: Ich will meinen Garten tränken, meine Beete wässern. Da wurde ich Kanal zum Strom, und ich Strom zum Meer.
Die Tora mit Gedanken aus dem eigenen Leben auslegen. Oder: das eigene
Leben mit der Tora auslegen. Die jüdische Bibelauslegung weiß um eine schriftliche UND eine mündliche Offenbarung, die schriftliche und die mündliche Tora.
Moment, ich soll jetzt auch noch die Geschichten, die ANDERE erzählen, auslegen? Ich hab keine Lust, irgendjemandem das Wort in der Kehle umzudrehen. Aber manchmal weiß jemand, der zuhört, besser, was gesagt wurde, als derjenige, der es sagte.
Und manchmal wissen es beide besser.
Oder beide nicht.
Oder ein dritter kommt dazu und offenbart: Es ging um ganz andere Dinge, und ruft: Es ist so viel Raum da, der verschwendet werden kann.
Exegieren: auslegen, hinlegen, ausbreiten, eine Fläche mehr oder weniger
lückenlos mit flächigen Teilen bedecken, mit einer Einlegearbeit schmücken, zur Einsicht vorlegen, deutend interpretieren, auf eine bestimmte Leistung hin anlegen oder konstruieren, jemandem vorübergehend zur Verfügung stellen.
Leider sind hier keine Bilder verfügbar.
Den Boden mit Fliesen auslegen. Oder: die Fliesen durch den Boden auslegen.
Es ist so viel Raum da, der verschwendet werden kann. Es ist so viel Text da, der verschwendet werden MUSS! Wofür? Einen Text nutzen, um einen Raum auszulegen – einen Konzertsaal zum Beispiel. Und, andersrum, diesen Saal dazu nutzen, den Text auszulegen, mit dem Laminat der Bühne, mit dem Gebälk des provisorischen Daches, das nach der Bombe immer provisorisch blieb, mit den Überresten der Scheinwerfer und dem Mauerwerk und den Pfeilen, die auf die Empore zeigen, daneben die Wörter RECHTS und LINKS.
Was könnte das heißen?
EBEN! Für manche ist es eine Geschichte, für manche sind es Bilder, die für andere Dinge stehen, für manche sind es lehrreiche Weisungen, für manche ist all das, was da geschieht, nur ein Geheimnis, das auf größeres verweist.
Auf irgendeinen Gott?
Auf das Kapital?
Oder einfach auf das, was zwischen uns sein kann, wenn das ZWISCHEN nicht nur als Trennung begriffen wird, eben AUCH, aber NICHT NUR.
Lektion 1921: Auslegung eines Konzertsaals.
Und nun, verehrte Anwesende, wollen wir uns nach zehn Jahren über diesen Begriff einmal wieder sprechen. In der Zwischenzeit will ich ihn vergessen.
Aber manchmal hängt man an den Begriffen, und wenn alle auf dich zeigen, darauf zeigen, wie du an diesen Begriffen hängst, und sagen: BOOOORING!, willst du dich lösen, doch es geht nicht, warum? Die Begriffe hängen eben auch an dir. Und jetzt dauert es Jahre, bis du sie loswerden wirst, eine Beziehung, die längst beendet ist und dich dennoch beschäftigt, Tag für Tag.

To cut a short story long
Ja, wie ist das so mit dem Herz? Solange es sich verzehrt, liebt es. Und sobald es sich nicht mehr verzehren muß, sobald es merkt, es wird geliebt, kann es schon nicht mehr lieben. Dann wird es zum Hüter, zum Hüter des Eigentums. Sobald ich denke, du gehörst mir, bist du nicht mehr du, der du da stehst und mit mir lebst, angesichts meiner Liebe lebst. Du bist ein Eigentum, vielleicht nicht mal meins, weil du mir nie gehören wirst, aber allein weil ich denke, du gehörst mir, verlierst du, was dich lebendig macht, und ich verliere, was mich lieben macht. Also: Wie kann ich lieben, ohne daß du mir ein Toter bist?
Das fragte ich dich, schreiend, kurz bevor unsere Gäste kamen. Mein Blut war in meinem Kopf, ich zitterte, wartete auf Antwort, alles an mir war Aufruhr, nur um sich dann, als es klingelte, von einer Mikrosekunde zur anderen, in eine Säule gefrorener Würde zu verwandeln, sehr ruhig und bereit für die Besucher.
Als die Gäste wieder weg waren, sagtest du, ich sei doch dein ein und alles. Und ich wußte da noch nicht, daß alles nicht ALLES heißen muß.
Es ist zwar kein ganz ungewöhnlicher Fall, Jünglinge, die sich den größten Ausschweifungen hingegeben hatten, auf Veranlassung irgend eines entscheidenden Vorfalls, zu einem ordentlichen und gesitteten Leben zurück kommen zu sehen. Aber meisten Theils ist es dann auch nur die Erschöpfung aller Kräfte, die durch den Schein einer selbst gewählten Ruhe einen täuschenden Schleier über den wahren Zustand wirft. Und dieser wahre Zustand heißt: ICH WILL AUSSCHWEIFEN, IMMER UND IMMER WIEDER AUSSCHWEIFEN.
Is ja gut, mein Liebster, aber ich. Will abschweifen, will mich konzentrieren und dann wieder abschweifen und mich neu konzentrieren und darin von jemandem sanft unterbrochen werden.
Ich will auch mal unterbrochen werden!
Dazu müßtest du zunächst mal reden.
Ich rede die ganze Zeit. Und so schöpfe ich ein Werk, doch während ich es schöpfe, ist der Kurator in mir schon dabei, das Werk zu erlösen. Erlösungswerk? Schöpfungswerk? Es gibt keine Geste, kein Wort, keine Farbe, keinen Klang, kein Begehren, keinen Blick, nichts, das die Erlösung in ihrem Liebesnahkampf mit dem Werk nicht suspendieren und außer Kraft setzen wird. Und wenn ich an die Zeit mit dir denke, bist du auf einmal wieder da, aber du bist nicht wirklich da, dein Körper ist weg, der ist ein Bild geworden, und nichts an dieser Erlösung IST noch, alles ist NICHT. Ich habe dich so geliebt, Börlyn.
Es war mir nie klar, daß das, wofür ich lebe, sowieso nur eingebildet ist. Aber wenn das so ist, dann: KEIN PROBLEM. Nichts zwischen dir und mir ist je ein Problem. Diese beiden Gebäude, die wir sind, werden in Zukunft weitläufiger, heller und schöner werden. Unter anderem durch drei neue Lichthöfe und eine große Dachterrasse mit Café und mit Freilichtbühne. Ich teile mich dann auf in einzelne Shops. In meine oberen Etagen und in dich ziehen Büros ein. Und was für welche! In den doppelgeschössigen Maisonette-Büroräumen würde mancher, der uns nutzt, lieber wohnen. Aber uns gibts nur temporär. Das ist nicht leicht für die anderen, es tut weh, aber das lernt man auch, das kann man trainieren. Praktisch, daß auch ein Fitneßstudio oben in dir entsteht. Und auf dem Dach, das uns beide verbindet, treffen sich Shopper und Bürohocker dann auf ein Käffchen im Garten. Insgesamt solle der umgebaute Doppelkomplex das Zentrum beleben und mit seiner Offenheit zu einem Motor der kreativen Stadtentwicklung werden, heißt es von den Investoren. Aber keine Panik: ein bisschen Zeit bleibt dir noch für die Schnäppchenjagd im alten Centaaar!
Ah ja.
Alles, was ich lebte, war eingebildet. Und nur diese Einbildungen versetzten mich in Aufruhr und Erregung, auch wenn ich nach außen immer so cool aussah wie nur möglich. Doch ich habe nie gelernt, für diese Einbildungen zu arbeiten oder sie mir zu erschleichen oder zu erkämpfen. Jetzt sind sie weg.
Alles, was ich liebte, war eingebildet.
Ja, es stimmt, ich hab dir gesagt, du seist mein ein und alles. Aber das habe ich eben nur gesagt. Und ich will wirklich ALLES. Den glamourösen Konzertsaal und den abgerockten Ballsaal und den dreckigen Club und den cleanen Club und den abgebrannten Club und die Bankhochhäuser und das Soho House und die alte Fabrik und das alte Karstadthaus und das alte Hertiehaus und das alte Kaufhofhaus und die alte Kommandatur und das Stadtschloß und alles andere, was irgendwie geil ist, von außen. Doch egal, ob du drinnen bist oder draußen: Es gibt nirgends mehr ein Draußen. Diese Stadt ist ein Schlafzimmer, in dem alle öffentlich so sind, wie sie auch privat sind. Diese Stadt ist die intimste, die es je gab. Diese Stadt ist  die größte Lustkammer, die –.



Endlich unterbricht er mich. Wenn ich etwas von jemandem erwarte, dem ich es wage, meine Liebe zu zeigen, dann doch, daß er mich unterbricht, so oft wie möglich, genauso wie ich ihn unterbrechen will, das ist Liebe doch: sich gegenseitig unterbrechen, um nicht mehr einfach so da zu sein, du dort und ich hier.

Enough
Echt sein ist nicht genug
Fake sein ist nicht genug
Fresh sein ist nicht genug
Flat sein ist nicht genug
Swag sein ist nicht genug
Hip sein ist nicht genug
Nicht hip sein ist nicht genug

Klug sein ist nicht genug
Intellektuell sein ist, nein, ist doch nicht genug
Reich sein ist nicht genug
Schön sein ist nicht genug
Leiden ist nicht genug

Privat sein ist nicht genug
Beruflich sein ist nicht genug
Beruflich sein, auch wenn du privat bist, ist
Privat sein, auch wenn du beruflich bist, ist
Europa ist nicht genug
Mittelschicht ist nicht genug
Heterosexuell ist nicht genug
Homosexuell ist nicht
Transsexuell ist nicht
Intersexuell ist nicht

Intertextuell ist nicht genug
Intermedial ist nicht
Interaktiv ist nicht

Nett ist nicht genug
Nice ist vielleicht genug
Liebenswert ist definitv NICHT

Kreativ sein ist nicht genug
Kunst machen ist nicht genug
Naturalismus machen ist nicht genug
Diskurskunst machen ist nicht genug
Verweigerung der Kunst machen ist nicht genug
Kunst verticken ist nicht
Kunst zum Verticken machen ist nicht
Kunst zum Verführen machen ist

Ernsthaft ist nicht genug
Ironisch ist nicht genug
Zynisch ist nicht genug

Pornographisch ist genug
Puritanisch ist genug
Pornographischer Puritanismus ist in jedem Fall genug

Prinzipien sind nicht genug
Prinzipien brechen ist nicht genug

Teilen ist nicht genug
Nicht teilen ist nicht

Allein ist nicht genug
Zu zweit ist nicht genug
Zu zweit ist viel zu viel

Einkaufen ist nicht genug
Nichts einkaufen ist nicht genug
Dich einkaufen ist nicht

Falten: nicht genug
Anti-Falten: nicht genug
Das Ende der Herrschaft der Falten: NICHT GENUG!

Schreien ist nicht genug
Flüstern ist nicht genug
Stöhnen ist nicht genug
Reden ist nicht genug
Aufhören zu reden ist längst nicht genug

Fehler vermeiden ist nicht genug
Fehler machen ist schon gar nicht genug
IN DIESEM BILD IST KEIN FEHLER VERSTECKT!

Anarchisch sein ist nicht genug
Anarchistisch sein ist nicht genug
Revolutionär sein ist, haha, guter Witz

Eine gute Partei ist nicht genug
Eine gute Partie ist nicht genug
Eine gute Party ist nicht genug

Für das nächste Video sind Sie nicht genug
Für das nächste Video ist die Realität nicht genug

Für den Walk of Fame
Für den Catwalk
Für den Catsuit
Für den Lawsuit
Für das Office
Für die Hotelsuite
Für die Zerstörung der Hotelsuite
Für den Tourbus
Für die Stadien
Für die große Bühne
Für die Kleinkunstbühne
Für den Partykeller oder die Garage bist du gerade so
Für den Strick bist du
Für den Strich bist du

Ficken ist nicht genug
Küssen ist nicht genug
Nicht küssen ist nicht genug
Für einen Kuß von dir bin ich nicht genug

Meine Ausweispapiere sind nicht
Meine Wertpapiere sind nicht
Mein Job ist nicht genug
Mein Kontostand ist nicht genug
Mein akademischer Bildungsgrad ist nicht
Mein nichtakademischer Bildungsgrad ist noch lange nicht
Mein Kleidungsstil ist nicht genug
Meine Wohnung ist nicht
Mein Schlafzimmer ist nicht
Mein Bett ist nicht
Mein Sexleben ist nicht genug

Dein Sexleben ist nicht genug
Deine Stimme ist nicht genug
Dein Teint ist nicht genug
Dein Kopf, egal wie gebildet, ist nicht
Dein Body, egal wie gebuildet, ist nicht
Dein Arsch oder deine Fotze sind nicht
Dein Schwanz ist nicht
Dein Mund ist nicht
Deine Zunge ist nicht
Deine Sprache ist nicht
Dein Schweigen ist nicht
Dein Schweigen angesichts meines Schweigens

Tränen sind nicht genug
Tränen herunterschlucken ist nicht
Trauern ist immer immer immer nicht genug

Genug ist nie genug

Auszug aus dem XVI. und letzten Kapitel von Ruhm und Erschöpfung von R.F. Lindner
Im Traum konnte sie sich keines Auftritts mehr als würdig erweisen. Im Traum war sie verschwunden, lange bevor alle anderen Menschen auch verschwanden. Im Traum sah Ludwig Lust leere Zimmer.
Und als die Nachmittage jenes Sommers kürzer wurden, so wie die Röcke der Damen, die sich alle gebärdeten, als seien sie der kurze Rock aus Lehárs Operette Der Zarewitsch, als die Nächte länger wurden, sah Ludwig Lust immer nur jenen einen Konzertsaal, in dem er sie zum ersten Male gesehen.
Eine einzelne Leuchte großen Ausmaßes leuchtete auf die Bühne, und darauf stand niemand. Ludwig Lust sah von der Empore hinab ins Parkett, und der Saal, auch im Parkett war er leer. Doch dann, als er den Traum bereits ein Dutzend Male geträumt hatte, sah er es, sah, was er zuvor übersehen.
Die Leuchte strahlte auf den Boden und streifte dabei das Portal. Und erst nach einem Dutzend dieser Träume nahm Ludwig Lust im Vorüberleuchten das Portal wahr. Wie kunstvoll und doch ehrlich, prächtig und doch bescheiden, jung und doch weise erschien es ihm. Und nun begann er, die Träume zu genießen. Schon beim Zubett-Gehen freute sich Lust auf den Anblick des Portals, freute sich, daß niemand sonst neben ihm im Saal sein würde, sehen würde, welche Schönheit es sein eigen nannte.
Bis zu jener einen Nacht. Als er einschlief, um im Saal zu erwachen, machte sein Herz einen Sprung. Und raste in die Tiefe. Denn von einem Augenblick zum nächsten wechselte das Licht. Die riesige Leuchte erlosch. Noch eine Sekunde oder zwei ahnte Ludwig Lust die Schönheit des Portals. Da griff eine andere Lampe in die Dunkelheit ein, eine kleinere, deren Licht schärfer, kälter, spitzer war. Und was lag nun dort? Dasselbe Portal, doch lungerte es im Halbdunkel herum, ohne Funktion, als reiner Schmuck, als Tand, mit dem niemand etwas zu tun wußte, Kunst um der Künstlichkeit willen. Und die Zuschauer, die zuvor gefehlt hatten, nun erst fehlten sie, sie fehlten. Das Gold war ein Lack, der splitterte, und selbst, als er abbrach, gab er noch damit an: Seht her, ich bin gülden. Dieses Portal wußte nichts.
Es war wie SIE. Es wußte von nichts. Und genau deshalb, dachte Ludwig Lust, hatte ich ihr versprochen, eine ganze Stadt für sie zu sein.
Das war der letzte Traum dieser Art. Die Nächte danach behielten ihre Träume für sich, er durfte sie nicht mitnehmen, als er sie verließ, um zurück in den Tag zu gehen.
Es wurde Oktober. Noch geleitete die Sonne die Bürger auf dem Boulevard Unter den Linden in den Abend.
Auch Ludwig Lust flanierte mit seinen Getreuen hier entlang. Sie sprachen über die Dichtungen Schillers, über den Dadaismus, über entfernte Kriege.
Manchmal, im Vorübergehen, täuschte eine Kopfbedeckung oder der Saum eines Kleides ihn, und er dachte, sie sei zurück.
Doch kurz, bevor auch jene späten Nachmittage sich verabschieden würden, zu jener Zeit, als schon eine Kälte und Härte spürbar war, die sie nach jenem Winter lange nicht verlassen würde, stellte sich Ruhe in ihm ein.
Diese Stadt, die nach den Sümpfen genannt, sie hatte ihn aufgenommen. Und er würde sie nicht enttäuschen. Er würde jener Dichter der jungen Republik sein, den alle in ihm sahen.
Und er sah sich in zehn Jahren, strahlend. Und all die Glorie, die ihm zuteil ward. Und all die Schöpfung, die entstanden war. Und die Erschöpfung.
Die Ruhe kam, und seine Traurigkeit ging. Seine Augen erholten sich. Scheinbar waren auch die Tränen am Ende.

(c) Jörg Albrecht, 2016

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