Winter was coming
Das Kottbusser Tor in Kreuzberg ist vor allem eins: extrem unübersichtlich. Vielleicht sogar unergründlich. Auf jeden Fall unendlich schön. Es ist der Ort in Berlin für mich, der sich gegen jene Starbucks-Wohlfühlatmosphäre stemmt, die jeden, der Mitte betritt, automatisch zum Touristen macht, egal ob er in der Stadt wohnt oder nicht.
You’re such a nasty piece of work!, heißt so viel wie: Du bist ein Arschloch, oder auch: Du bist ne Dreckschleuder. Das schimmert sicher auch ein wenig durch, wenn wir unser Projekt mit „Nasty Peace“ überschreiben. Aber kann Frieden überhaupt fies, dreckig oder arschig sein? Oh yes, kann er. Zumindest wenn man sich anschaut, was in diesem europäischen Frieden, der in diesen Tagen, den Tagen des Mauerfall-Jubiläums, wieder einmal heraufbeschworen wird, vor sich geht: die totale Privatisierung jeglicher öffentlichen – und damit auch genuin städtischen – Qualität.
Zum zweiten Mal sind wir mit copy & waste am Kottbusser Tor. 2009 bauten wir ein Minitheater mit einer Bühnentiefe von nur einem Meter ins WestGermany, das ja früher eine Zahnarztpraxis war, und inszenierten dort Die Versteigerung von No. 36.
Diesmal heißt der Abend Nasty Peace, und diesmal wird wirklich versteigert. Und wirklich ganz Kreuzberg 36. Die Zuschauer können mitbieten und sich später anschauen, worum es bei der Auktion eigentlich ging. Sie werden in den nahenden Winter entlassen, mit Kopfhörern, und durch das Areal gelenkt, das man Kottbusser Tor nennt, auch wenn das tatsächliche Stadttor nach Cottbus schon seit fast drei Jahrhunderten nicht mehr existiert.
Währenddessen hören sie Geschichten über diese Gegend, vor allem über das Wohnen hier: über die steigenden Mieten – gegen die die Mieterinitiative Kotti & Co seit Frühjahr 2012 auf einem Platz permanent protestiert –, über die Privatisierung von Wohnungsbau in Berlin und über Privatisierung überhaupt seit der sogenannten „Wende“.
Dabei verstehen wir die Wende vor allem als die Umwendung zu einer Ordnung des Privaten, die von der Regierung Kohl beherzt und herzlos zugleich durchgesetzt, von der Treuhandanstalt vorgemacht und von der Regierung Schröder bis in die Körperzellen des Einzelnen hineingetragen wurde – mit Hartz IV, der endgültigen Nachricht, daß alle nur noch für sich selbst verantwortlich sind und für niemanden sonst.
Nasty Peace findet als Teil eines Projekts statt, das das English Theatre Berlin | International Performing Arts Center initiiert hat: 25 Jahre Mauerfall or: How I Learned to Stop Worrying and Love the Ossis/Wessis. Grundlage ist dabei das Stück Berlin Circle des US-Historikers Charles Mee, das im November 1989 spielt und auf Brechts Kaukasischem Kreidekreis basiert.
Auf beide Stücke Bezug nehmend, beschäftigen auch wir uns mit der Frage, wer eigentlich für jemanden oder etwas von Nutzen ist. Bei Mee und Brecht ist es die Frage, welche Mutter für das Kind gut ist. Bei uns die Frage, wer für die Häuser gut ist: die Menschen, die in ihnen – wie in den Sozialwohnungen am Kotti – schon seit Jahrzehnten leben und dort ihre Heimat gefunden haben, oder Investmentgesellschaften, die die Substanz verrotten lassen, um Rendite einzustreichen.
Mit unserem Audiowalk wollen wir dem Publikum einerseits die Schönheit dessen zeigen, was am Kottbusser Tor da ist. Dazu gehört die reichhaltige Geschichte, die hier überall existiert, und die man nicht immer sehen, aber immer noch hörbar machen kann. Und diese Geschichte ist hier wie an kaum einem anderen Ort Berlins deshalb so vielschichtig, weil hier immer so unterschiedliche Milieus aufeinandertrafen. Anfang der Achtziger zum Beispiel lebten hier Hausbesetzer, Migranten der ersten und zweiten Generation, alte Arbeiterschaft. Was aber veränderte sich hier seit 1989? Wie erlebten zum Beispiel die türkischen Migranten diese Zeit, in der ihnen auf einmal gesagt wurde, sie könnten jetzt wieder zurückgehen in ihre Heimat?
Neben dieser Vielfalt des Kotti, seiner pulsierenden Energie, seinem schönen Chaos, die die Zuschauer auf dem Walk direkt erleben, malen wir aber durchaus auch das Szenario, was hier sein könnte, wenn das Viertel „entwickelt“ würde. So zumindest nennt die längst neoliberalisierte Stadtentwicklungspolitik es ja gerne, wenn Masterpläne erstellt werden, um eine angeblich hochwertigere Lebensqualität zu schaffen. Auch hier setzen wir auf die Macht des Hörbaren: Während das Publikum sieht, wie es (noch) ist, hören sie, wie es bald sein könnte. Und erfährt auch, daß Menschen sich dagegen stemmen, zum Beispiel eben Kotti & Co, vor deren Protesthütte, dem Gecekondu, unsere Schauspieler ein Singspiel à la Brecht aufführen.
Mit Nasty Peace wollen wir eine Diskussionsgrundlage schaffen: Worum geht es uns heute, hier, in dieser Stadt? Darum, nur unser eigenes Leben möglichst kuschelig zu gestalten und dafür irgendwie das nötige Geld zu verdienen? Oder darum, sich als Teil einer Stadtgesellschaft zu begreifen, die davon lebt, daß in ihr Menschen aller möglichen Backgrounds aufeinandertreffen? Ein bißchen was davon wollen wir mit Nasty Peace auch ermöglichen und bieten deshalb den Audiowalk auf Englisch, Türkisch und Deutsch an – in den Sprachen, die am Kotti derzeit vor allem gesprochen werden.
Am Ende unseres Theaterabends stellt sich die Frage: Wie verstehen wir den alten Anti-Gentrifizierungs-Slogan „Wir bleiben alle“? Geht es darum, daß wir alle bleiben, also: jeder von uns? Oder darum, daß wir alle sind und bleiben, also: alle, leer, ausgepowered durch diesen fiesen Frieden, der keiner ist?
entstanden für Urbanophil. Netzwerk für urbane Kultur, November 2014
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