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Rocky an der Ruhr

Gedanken zum Neustart des Ringlokschuppen Ruhr nach seiner Rettung und Umstrukturierung, Dezember 2014

Wie über etwas schreiben, das gerade verlorengegangen ist, obwohl es gerettet wurde? Wie darüber schreiben, ohne daß es zu einer kitschigen Geschichte wird, zur altbekannten Geschichte vom Kampf der freien Künste gegen die Diktatur des Sparens? Oder kann nur der Kitsch leisten, was in so einem Fall zu leisten ist?
Das ginge so: Es war einmal eine Gruppe von Menschen, die sich in den Kopf gesetzt hatten, einen Ort zu besetzen und etwas zu schaffen, von dem sie dachten, daß es fehlte. Am Anfang mußten sie kämpfen um überhaupt aufzubauen, und mehr noch als ein Architekt, der im Zuge der Realisierung seiner Entwürfe Schritt für Schritt seine Vision aufgeben muß, nein, sie Schritt für Schritt mit dem, was machbar ist, übereinbringen muß, bauten sie langsam, mit immer wieder neuen Plänen, Stück für Stück an diesem Ort. Und als er auf einmal da war – ein AUF EINMAL, das natürlich kein AUF EINMAL war, sondern sich bereits wie Jahrzehnte anfühlte –, kämpften sie darum, diesen Ort mit Menschen und mit Möglichkeiten zu füllen, ihn zu einem möglichst vielfältigen, möglichst offenen Zentrum des kritischen und angriffslustigen Denkens, Fühlens und Handelns zu machen, bitter benötigt in jener Schlimm City. Und als das gerade richtig in Gang war, überschlug sich dieser Ort, und die Löcher, die beim Überschlag geschlagen wurden, ließen sich nicht mehr von allein stopfen, und auf einmal waren sie angewiesen auf die in der Politik, die sie immer wieder lustvoll angegriffen hatten, wie einen Sparringspartner, dem man nichts Böses will. Doch was tun, wenn dieser Sparringspartner auf einmal zurückschlägt, weil das kein Trainingskampf mehr ist, keine glorified sparring session? Und wenn man begreift, daß man selbst als richtiger Gegner dient, daß der Ort, den man geschaffen hat, auf einmal zum Übungsplatz wird, an dem der Ex-Sparringspartner zum Champion mutieren will, nicht im Schwergewicht, in der Klasse Unterkomplexgewicht, wo auf alles eingedroschen werden kann, was nicht ökonomisch genug, nicht gefällig genug, nicht linear genug, nicht heterosexuell genug, nicht deutsch genug, nicht undemokratisch genug ist. Und das, was an dem Ort über zwanzig Jahre an Freiheiten aufgebaut worden war, war innerhalb von Sekunden wieder aufgebraucht.
Das wäre die kitschige Version. Und auch wenn es billig ist: Es läßt mich an Rocky denken, an Rocky Balboa. Der in jedem Film von Sylvester Stallone verkörpert wird und in jedem dieser Filme, von Sylvester Stallone verkörpert, am Ende einen Kampf gewinnt, nur um am Anfang des folgenden Films diesen Erfolg schon wieder eingebüßt zu haben. Immer muß Rocky beweisen, daß er kann, was er kann, nie ist es gesichert, nie nie nie.
Denn am Morgen danach bist du nichts. Du bist kein Gewinner. Bist kein Verlierer. Du bist diese riesige Wunde, die sich allen Reizen des Universums geöffnet hat. Deine Hände sind doppelt so groß wie vorher. Deine Augen sehen nichts mehr. Du bist ohne Gesicht. Dieser Schmerz da ist dein neues Gesicht. Und da sage jemand nochmal, Kämpfen finde zu neunzig Prozent im Kopf statt.
Und was kann man nun daraus von Rocky lernen? Oder von Sylvester Stallone? Kann ich ihn heranziehen, um die kitschige Geschicht eine andere zu verwandeln? Oder zumindest, um diejenigen, die nun von diesem Ort weggehen, um sich selbst an einem anderen Ort wiederaufzubauen, etwas an die Hand zu geben? Ein paar Coachingtips? Let us try.
O-Ton Stallone oder Rocky: Ich war ja nie auf ner Schauspielschule. Ich hab mit Talkshows angefangen. Und da habe ich das gelernt, was ich im Ring perfektionierte: Ich bin nie zu Boden gegangen. Ich war bewußtlos, oh ja, und zwar sehr, sehr oft, eigentlich hauptsächlich, wenn ich im Ring stand oder in Talkshows saß. Aber zu Boden gegangen bin ich nie. Immer auf den Füßen. Ohne Bewußtsein. Der Körper macht einfach weiter, er ist von diesem Dämon besessen, der weitermachen MUSS. Und in diesen Phasen, sagen die Kommentatoren, wirke ich immer besonders echt. Das ist die höchste Kunst, sagen sie.
So weit eine PR-Version dieser Geschichte, die sich ganz gut an den Mann bringen läßt. Weil sie von etwas handelt, das wir kennen, weil sie MIT etwas handelt: mit dem Automatikodus, den sich die Wirtschaft in den vergangenen vierzig Jahren als Grundexistenzweise ganz gut von den Künstlern abgeschaut hat. Und von den Boxern. Automatik: einfach weitermachen. Auch wenn du schon bewußtlos bist. Ja, es gibt keinen besseren Zustand als den, in dem man mit einem Becher Kaffee in der Hand eine Straße langläuft, die Sonne scheint, und man ist erschöpft, aber irgendwie auch glücklich, weil man wieder ein Projekt geschafft hat. Und vor allem, weil es nie zuende gehen wird, weil man immer irgendwo gebraucht wird.
Aber wer wird nun wo gebraucht? Wie wird dieser Ort, über den ich versuche zu schreiben, in Zukunft aussehen? Wird er unbelebter wirken, weil weniger Menschen dort arbeiten? Weil der Teamgeist, der hier so groß war, sich nun im kleineren Team erst einmal neu behaupten muß? Oder wird er belebter sein, trotz alledem? Wird er diejenigen vermissen, die gehen mußten? Oder fühlt er sich – auch wenn diese Menschen ihm Freiheit verschafften – selbst auch ein bißchen befreit von ihnen, von dem ganzen Ballast, den man in so einer Beziehung ja immer mit sich rumschleppt? Hat er sich vielleicht sogar danach gesehnt, wirklich VON VORNE ANZUFANGEN?
Neulich sah ich noch einmal den letzten Teil der Rocky-Saga, den sechsten, Rocky Balboa. Und ich sah gar nicht so sehr die Schauspieler, sondern vielmehr den Ort, an dem er spielt, nämlich das Viertel, aus dem Rocky kommt, und dem er zwischenzeitlich entkommen war, nur um dann wieder dorthin zurückzukehren. Und sicher, viele sind nicht mehr hier, und andere sind gekommen. Und ich dachte: Wie schön, daß manche Orte sich nicht nur weiterentwickeln. Daß sie selbst nach zwanzig Jahren immer noch genauso ungentrifiziert und lebendig sind und gerade deshalb viel weiter, als wenn irgendjemand sie entwickelt hätte. Wie schön, daß manche Orte sich nicht nur einfach weiterentwickeln, daß sie sich immer mehr und mehr verwickeln, in irgendwas.
Ja, sie ist immer noch da, diese komische Sehnsucht, dieses Gefühl, in dieser Stadt zu sein, im Versuch, genau hier zu überleben. Das Gefühl, diese Stadt zu sein und zu überleben. Und das wird mir fehlen. Ich liebe die Kämpfe. Alles war so schnell vorbei.

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