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Rotten rooms in wasted landscapes

1         silver and cigarettes

Damals, 2010: Ich war dabei, um die große Liebe zu trauern. Ich trauerte und trauerte und wollte nur eins: meinem Foto ähnlich sein. Ich saß im Kinosaal, zurück aus einer riesigen Stadt, in der es nur einen Menschen gab, dessen Blick mich getroffen hatte, weil er mich nicht getroffen hatte, nur mit einem Auge nicht getroffen hatte, und mit dem anderen schon. Ich trauerte um die Kinobesuche mit diesem Menschen, die ich nie machen würde, um von der Seite zu beobachten, wie er auf die Leinwand blickt, mit seinem Silberblick. Ich trauerte und trauerte und wollte an einen Ort, den es nicht mehr gab, ganz woanders: ein kleines Kino, irgendwo im Osten. Wir sprechen nicht von einer Stadt. Und nicht von zwei. Wir sprechen von ein bis zwei Städten. Und dieses Bis in ein bis zwei ist ein Fluß. Ja, trotz EU bleibt die Oder die Grenze zwischen Frankfurt und Slubice. Was beide Städte über den Fluß hinweg verbindet, ist: dass Kinos verschwinden. Wer in Frankfurt wird es retten, vor dem Verfall, das Lichtspieltheater der Jugend? Und wer in Slubice trauert ihm hinterher, dem kleinen Kino am Ende der Zigarettenstraße? Heute niemand. Aber in zwanzig Jahren wird jemand einen Spielfilm über dieses kleine Kino dort drehen. Und in fünfzig Jahren werden die Fans dieses Films den Ort aufsuchen, an dem das Kino aus ihrem Lieblingsfilm stand. Und es wird nichts übrig sein, von diesem kleinen Ding, das mal größer war, ja. In den Zwanzigern nannte man es: Palast, nach dem Krieg dann: Piast. Und viel ist nicht mehr übrig von der Fassade, Art Déco, ein architektonisches Schmuckstück, am Anfang stumm. Später liefen hier die Ufa-Unterhaltungs-Streifen und Wochenschauen und in den Achtzigern Filme, die das polnische Regime kritisierten, Star Wars zum Beispiel, und dafür kamen sogar alle rüber, über die Oder. So kam es zu rührenden, wenn auch schwierigen Begegnungen zwischen Deutschen und Polen. Das Gefühl der Vorläufigkeit, wenn man versucht zu reden mit dem anderen. Ach was, reden. Lasst uns einfach ins Kino! Das heißt, sagt Karl Schlögel auf dem youtube-Screen, der Ort zwingt eigentlich Historiker dazu, die Situationen zusammenzudenken, die in der Arbeitsteilung der Wissenschaft oft auseinanderdividiert werden: Der eine macht Kino und der andere macht Terror, aber in Wahrheit gehören diese Dinge zusammen. Ja, selbst im Kino sind die Nazis. In Der Fall Gleiwitz, diesem DDR-Filmklassiker, den Sie jetzt sehen, auf meinem Augenlid, sind die Nazis im Kino und schauen dem Filmvorführer auf die Finger. Tolles Bild, ne? Aber was sich in diesen Landstrichen um die Oder herum im 20. Jahrhundert abgespielt hat, ist über solche Bilder nicht fassbar. Es ist nicht mehr sichtbar und das war es auch nie. Jedenfalls nicht, wenn Sichtbarkeit nur das ist, was wir sehen. Im Lichtspieltheater, das vor sich hinrottet. Mich berührt das. Die Geschichte dieses Kinos da drüben, am Ende der Zigarettenstraße von Slubice. Vor allem die jüngste Geschichte berührt meine Geschichte, denn wie ich sollte auch das Piast umgebaut werden, zum Supermarkt. Letztlich verlorene Chancen, Erinnerungsorte festzuhalten, zu erhalten, um ihnen beim Altern zuzuschauen. Augenzeugen, die hier nicht genannt werden können, sahen im Piast immer wieder einen polnischen Underground-Film, der in Anlehnung an Warhols Empire den Frankfurter Oderturm zeigt, 24 Stunden gefilmt, über die Grenze hinweg. Das war seltsam, das setzte einfach Gefühle frei, wenn ich es anschaute, und ich erinnerte mich an Zeiten, die ich nie erlebt hatte, die Europa nie erlebt hatte, Zeiten, in denen man einfach so über Grenzen ging, ohne nur an die billigen Zigaretten zu denken oder den Uni-Abschluss. Ein schöner Traum? Jaja. Aber er hat es verpaßt, sich einzuschreiben. Mal schauen, was noch geht.

 

2       Wo ist das Gold

Neulich, im Gehörsaal: die Sounds klappernder Fensterflügel. Dazu Wind, wie er nur in sehr leeren Straßen klingt. Und irgendwo der Rest einer Melodie aus E-Gitarre und Peitschenschlägen Wie man sie aus dem Western kennt. Wie man sie aus der Innenstadt von Detroit kennt. Wie man sie aus Chemnitz kennt. Und sofort sind wir in this city formerly known as Karl-Marx-Stadt, genauer: im Stadtteil Brühl, noch genauer: auf dem Brühl Boulevard. Ja, das war mal DAS Einkaufszentrum dieser Stadt, zu DDR-Zeiten, ab 1980 restauriert und umgestaltet, zum Boulevard. Hier, wo die Schaufenster alle gleich aussahen [meine Erinnerung an Magdeburg, kurz nach der Wende: Schaufenster von Spielzeugläden, die alle gleich aussahen, aber anders gleich als die Schaufenster in den Fußgängerzonen im Westen], hier, wo die Gründerzeitfassaden entgegen der DDR-Baupolitik aufgewertet wurden, hier klappern Fensterflügel, und irgendwo hinter den Fenstern, irgendwo blitzt ganz sicher ein Colt. Hier haben sie sich verschanzt, die wenigen Menschen, die sich weigern, Karl Marx City als schrumpfende Stadt zu sehen. Oder doch: Die sehen das, aber wissen, dass das Schrumpfen nur ein kurzer Augenblick in der langen Stadtgeschichte ist. Dass diese Stadt, selbst wenn sie schrumpft, wartet, darauf wartet, dass andere Bewohner sie zu einem anderen vorläufigen Ende einer vorläufigen Geschichte führen. Und wenn nicht? Oh, bitte, malen Sie nicht so ein Szenario! Der Architekturführer über den Brühl Boulevard stimmte mich ein auf ein Melodram, aber darauf? Dass ein Land, das jahrzehntelang ausgeräubert worden ist, aus Geisterstadtteilen besteht? Oder was ist das hier, mit the wild wild Ost? Und dem ehemaligen Feindbild, jetzt: Vorbild, the mild mild West? Also, was ist sie nun, die Gegenwart? Ein Westernfilm? Ja. Und der läuft auf Flatscreens für Werbung in diesem schönen westdeutschen Einkaufszentrum in Ostdeutschland, das westdeutsche Architekten Chemnitz gaben, in den Neunzigern/Nullern! Statt dem Brühl Boulevard haben wir nun das: die perfekte Kopie einer Fußgängerzone aus West Germany. You think you listen to the same song over and over again. Die ewig gleichen Shoppingmelodien dieser Stahl-, Glas-, Betonarchitektur, wie sie uns überall, in jedem bisschen, was sich Stadt nennt, vorgesetzt wird, die vorausgesetzt wird, noch ehe wir da sind. Was ist DAS?! Ein Atlas des Westens: Goldadern und Geisterstädte, wo ich die Schauplätze der Wildwestkämpfe nachschlagen kann, die der Kapitalismus führt, in diesem Atlas finde ich alles, was er braucht: Revolverschüsse, zusammengefallene Silberminen und die Erinnerung an Gesänge einer abgehalfterten Sängerin im Saloon. Ihre einstudierte Handbewegung, ihr einstudierter Blick, einstudierter Wimpernschlag. Ja, wenn es wenigstens ein richtiger Schlag wäre, in die Fresse oder in die Realität. Ach, zu spät.

 

3         Coming-Soon-Stadt

Wir sind hier in der Barackenstadt auf der Schlächterwiese vor dem Cottbusser Thore, 1896, eine bunte Reihe der jämmerlichsten Hütten, überall mit großen und kleinen Öffnungen, durch welche der Regen peitscht und das Fundament dieser Hütten, den rohen Erdboden, in Brei und Schlamm verwandelt. Sind diese zusammengezimmerten Häuser hinter den Häusern legal? Is mir doch egal. Die Gegend ist viel zu arm, als dass man Geld hätte für Baugenehmigungen. Und doch kann sich Kreuzberg leisten, was es bis heute ausmacht: die Mischung. Dass Menschen, deren Gehaltsklassen, Geburtsländer und Musikgeschmäcker sich völlig unterscheiden, sich begegnen und öffentlichen Raum teilen und einander sagen: Hey, du siehst einfach gut aus! Das bin nicht ich, das ist mein Geschichtsbewußtsein, gut aussehendes Geschichtsbewußtsein, das kann ich mir leisten. Und deshalb will ich: Schönheit, Identität und das Ende der Moderne! Gleich drei Dinge auf einmal? Da könnte ich dir das Stadtschloss anbieten. Ein Stadtschloss für eine Stadt, die sich schließt. Wo Adressen endlich eindeutig sind, nicht wie am Kottbusser Tor, da verlier’ ich ständig den Überblick, Hausnummern, die bis in die Hunderttausender gehen, obwohl die Straße in Kilometern überhaupt nicht so lang ist, Skalitzer Straße 133.333. Erinnerungsreste, die sich zusammenfügen, ungeplant. Ohne Plan? Warum auch, in einer Stadt, die sich langsam schließt, kann ich mich kaum verlaufen. In dieser Reststadt am Kottbusser Tor kann ich mich immer verlaufen, so dass Du mich suchen mußt und nie weißt, wo ich bin. Wo Seiten- und Hinterhäuser stärker bewohnt sind als Vorderhäuser: weder Altstadt noch Neustadt, eine, die kommen kann, coming soon, coming! Wo spontan gebaute Gebäude auftauchen, Hinterhäuser und Hinterhäuser von Hinterhäusern. Wo Berlin viel mehr Ähnlichkeit hat mit Mexico City [zwanzig Millionen Menschen, kaum Freiflächen, Metacity] und die Hälfte davon ist dadurch entstanden, dass man losgebaut hat. Los! Ja, auf der Ebene dessen, was zwischen Gebäuden und Menschen passiert, sind sich Quartiere und Strukturen ähnlich, die man nie für ähnlich hielt, wie das Kotti und die Colonias Populares. Und das, was Berlin eigentlich ist, in Verbindung von Vierteln mit Vierteln anderswo, ist unsichtbar. Berlin ist unsicher und nur sichtbar in den Schnitten. Schnitte!? Wie im Film? Aaaargh! Das ist ja ein Verständnis von Architektur, das viel zu weit geht, das von Häusern mehr verlangt, als Straßen zu begrenzen und den Mund zu halten! Ja, genau. Komm! Wenn wir jetzt laufen, schaffen wir’s durchzurollen, unterm Rollgitter dieser Stadt formerly known as Hauptstadt of Preußen. Nein, wir schaffen’s nicht. Nimm deinen Platz im Gemälde ein. Atme durch. Zähl bis drei. On behalf of Prussian Wings, we wish you a pleasant life.

 

Finale: Raumspray

Neulich, vorm Photoshop: Verschimmelte Lichtspielhäuser, in denen das Licht mal spielte. Abgewrackte Boulevards, an denen nichts mehr passiert, nicht mal Konsum. Unübersichtliche Städte in der Stadt, deren spontane Architekturen der letzte Spalt in einer narrativen Schließung sind, die im Gang ist, seit 1990, und deren einzelne Etappen das, was wir unter Raum verstehen, zu etwas anderem machen, als es das 20. Jahrhundert gemacht hat/gedacht hat. Und doch sollen wir uns nicht verbunden fühlen mit diesem Raum. Sollen nur davorstehen und schauen. Abgetrennt und frei von Fragen. Wenn ich versuche, Verräumlichung darzustellen, mit diesem Körper, ist das Ergebnis wieder eine Verräumlichung. Tja. Was macht ein Raum wie ich eigentlich so, wenn er komplett verlassen ist, alleingelassen? Die Leere des Bühnenraums, wenn auch die Techniker Schluss haben. Die Leere des Zuschauerraums, wenn die Vorstellung vorbei ist, seit Stunden. Die Leere des Zuschauerraums während die Vorstellung läuft. Ja, kennen wir doch auch. Schau mich einfach an, und Du siehst sie. Die Tragödie einer Architektur, die alles sein will, nur nicht unsichtbar. Und die heimlich weiß, dass sie immer schon unterbrochen ist. Ich sagte doch: Schnitte! Oder wie meint Judith Butler, auf dem Kindle-Screen: Anders gesagt hält der Rahmen nichts an einem Ort zusammen, sondern wird seinerseits zu einer Art fortgesetzter Durchbrechung und unterliegt dabei einer temporalen Logik der Bewegung von Ort zu Ort. Also Räume aufnehmen, über die Webcam, und da einmal nicht die eigene Visage vor den imaginären Fotoblitz halten, sondern dem Zimmer die Chance geben draufzukommen, dem eigenen Zimmer, fremden Zimmer, lauter Zimmer auf eine Bühne projizieren und herausfinden, wie sie zueinanderstehen [nicht: zueinanderfinden], wie der Raum und ich einen Zusammenhang machen, herstellen, immer neu und anders herstellen. Im Bühnenraum die Entfernung zwischen Räumen verdichten, die geographisch sehr nah beieinander liegen, samt Ähnlichkeiten zwischen solchen, die hunderttausende von Kilometern auseinander sind. Und wäre das die Aufgabe für Theater: den Raum, der man selbst so ist, immer neu in Beziehung zu setzen zu Räumen da draußen? Verschiedene Raumlogiken, die sich versprühen, einander durchdringen und wiedergeben, was alles dranhängt, an Sichtbarkeit. Wenn bei youtube unter: Ähnliche Videos immer nur dasselbe Filmchen aufläuft. Wenn du Partys besuchst, die öde sind, aber auf den Pics, die du später im Netz findest, sind alle gut drauf. Wenn die Leinwand verwaist ist oder sich im Beton der Türme Risse zeigen, wird die europäische Epoche zu Ende sein, wird Europa unsichtbar. The strategy of becoming invisible. Sichtbarkeit als etwas, was dem Sichtbaren zwar angehört und doch mehr ist als nur das, was wir sehen, eine seltsame Durchkreuzung von Sehweisen, Denkweisen und den materiellen Praktiken, die sich aus ihnen ergeben. The tragedy of being visible. Und dann die Schauspieler, ausgeliefert, auf der Bühne, angeblickt. Angeblicktwerden als körperliche Höchstanstrengung, wie wir es jeden Tag draußen erleben, im öffentlichen Raum, der nie öffentlich war, Raumspray, Sorte: öffentlich. Und das auf die Bühne zerren, indem man sich selbst auf die Bühne zerrt und zeigt, was öffentlich sein heißen könnte. Ja, das ist, wie Simon Critchley sagt, eine schmutzige, mühselige, konkrete Arbeit. Und: Klar, bevor wir uns öffentlich zeigen, sollten wir uns die Haare färben. Aber jetzt lasst mal loslegen, nicht nur hier, auf Papier. Sonst schreiben sie 2060 und ich warte immer noch, dass wieder mehr Menschen mich bewohnen. Ich als Stadt, die wartet, auf Dich wartet, Jahrzehnte lang. Allein, weil Dein linkes Auge und Dein rechtes an verschiedene Stellen blicken, wenn sie mich anblicken, und mich so aufteilen, mich zum Raum machen, egal wie stark ich versuche, meinem Foto ähnlich zu sein. Dein Silberblick. Der hat mich früh genug gewarnt: Come as you aren’t.

für: Gorki Planet “Landschaften”. Zeitschrift des Maxim Gorki Theater Berlin, 2010

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